„Die Menschheitsgeschichte begann mit einem Akt des Ungehorsams, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass sie mit einem Akt des Gehorsams ihr Ende finden wird.“ Erich Fromm
Bestimmt hast du auch schon öfter von „zivilem Ungehorsam“ gehört. Aber „spiritueller Ungehorsam“ – was soll das sein? Warum ist spiritueller Ungehorsam so wichtig auf dem Weg des Erwachens?
Der spirituelle Weg soll uns zu frei denkenden, frei fühlenden und frei handelnden Menschen machen. Freie Menschen sind nicht zu manipulieren und zu knechten, da sie sich nur ihrer eigenen Weisheit unterwerfen – ganz unabhängig von der Mehrheitsmeinung und davon, was die jeweils herrschende Elite, eine Religion, oder irgendein Guru als „gut und richtig“ definiert.
Doch allzu oft übernehmen wir in der Spiritualität – wie im „normalen“ Leben – blind und ohne kritisch zu hinterfragen irgendwelche Weltanschauungen, Meinungen und Konzepte.
Wir konsumieren und wir glauben irgend etwas, und wir erschaffen uns mit Gleichgesinnten einen Kodex der spirituellen Überzeugungen, den wir mit dem Bann der Unantastbarkeit belegen.
Das ist tote „Spiritualität“. Nicht mehr als ein unbelebtes gedankliches Konstrukt.
Spiritualität aber lebt und gewinnt erst an echter Kraft durch das Loslassen aller Konzepte und durch die innere Leere, die sich wie ein großes Gefäß der direkten Erfahrung des Seins öffnen kann. Und dazu ist eine Prise spiritueller Ungehorsam manchmal unerlässlich.
Inhalt
Spiritueller Ungehorsam als „Pubertät des Suchenden“
– Wie kulturelle Prägungen und esoterische Konzepte unsere Spiritualität bestimmen
– Spiritueller Ungehorsam und die Angst vor dem Alleinsein
– Spiritualität als Weg in die innere Freiheit
Mystik statt Glaube
– Warum spiritueller Ungehorsam für den Weg des Erwachens so elementar ist
– Was ist ein Mystiker?
– Es gibt nichts zu lernen und nichts zu erreichen
Spiritueller Ungehorsam und der Mut zur eigenen Wahrheit
– Wer Grenzen überwinden will, braucht spirituellen Ungehorsam
– Wann spiritueller Ungehorsam zur Pflicht wird
– Spiritueller Ungehorsam versus spiritueller „Leistungszwang“
Spiritueller Ungehorsam: Buddha und Pippi Langstrumpf
– Selbst denken, fühlen und entscheiden erlaubt!
Spiritueller Ungehorsam als „Pubertät des Suchenden“
Die Pubertät ist der Lebensabschnitt, in der ein junger Mensch sich seine Freiheit erkämpft. Er rebelliert gegen Regeln, begehrt gegen Autoritäten auf, entdeckt seine Individualität, und lernt, immer mehr Selbstverantwortung für sein Leben zu übernehmen.
Genauso wie die Pubertät eine wichtige Phase der Ablösung und inneren Reifung ist, so ist es vielleicht unerlässlich, dass wir auch auf unserer spirituellen Reise irgendwann den Mut finden, uns von erlernten und angelesenen Theorien zu lösen und unserem eigenen Erkenntnisweg zu folgen.
In der „spirituellen Kinderstube“ orientieren wir uns an Weltanschauungen, Lehren und Konzepten, befolgen altbewährte Rituale und glauben, was Autoritäten uns über das Mysterium des Lebens erzählen. Wir trauen uns nicht zu, eigene Erfahrungen zu machen und eigene Antworten zu finden.
Spannend wird die Reise, wenn wir an den Punkt kommen, das Bekannte in Frage zu stellen und den sicheren und bequemen Hafen unseres vermeintlichen Wissens zu verlassen: Spiritueller Ungehorsam lautet das Stichwort!
Wie kulturelle Prägungen und esoterische Konzepte unsere Spiritualität bestimmen
Stell dir vor, du würdest alles vergessen, was du je an religiösen Prägungen, an esoterischen Konzepten und spirituellen Unterweisungen gehört oder gelesen hast.
Was wäre dann übrig?
Gibt es überhaupt irgendeine mystische Erfahrung oder eine tiefe Seins-Erkenntnis, die aus dir selbst heraus kommt, oder gäbe es dann gar nichts mehr?
Das Charakteristische am „Glauben“ ist ja, dass wir die Geschichten, die uns erzählt werden, glauben können oder eben auch nicht. Was glauben wir nur, und was entspringt unserer eigenen tiefen inneren Erfahrung, einer Religiosität, die tief in unserer Essenz wurzelt?
Würde Gott für dich existieren, wenn dir nie jemand die Geschichte von dem guten (oder auch strafenden) alten Mann erzählt hätte, wenn es keine Kirche und keinen Religionsunterricht gäbe?
Würdest du dir einen Kopf um „Portaltage“, um das Geheimwissen von Atlantis und die Erzengel machen, wenn du nicht irgendwo darüber gelesen hättest? Hättest du eine Vorstellung von Sünde oder Karma, von Reinkarnation oder „Seelenverträgen“, wenn du diesen Konzepten nicht durch Sozialisation, Bücher oder Seminare begegnet wärst?
Wir sind dermaßen geprägt von der Kultur, in der wir aufwachsen, und später dann von dem spirituellen Umfeld, das wir selbst wählen, dass wir gar nicht merken, wie viele Konzepte, Dogmen und Weltbilder wir ungeprüft und unkritisch übernehmen.
Was an deiner Spiritualität ist wirklich natürlich, pur und unbelastet?
Spiritueller Ungehorsam und die Angst vor dem Alleinsein
Der Mensch ist ein Herdentier. Und so suchen wir auch auf unserem spirituellen Weg nach einer Herde, der wir uns anschließen können. Nichts ist für den Menschen schlimmer, als von einer Gemeinschaft ausgeschlossen und alleine zu sein.
Vor langer, langer Zeit waren wir nur im Sozialverbund überlebensfähig. Und so ist das uralte Programm der Unterordnung und des Mitlaufens mit der Masse tief in unseren Instinkten verankert.
Die medizinische Wissenschaft sagt, dass der größte bekannte Stressor und die wichtigste psychische Ursache für Krankheit das Gefühl des Ausgeschlossenseins bzw. der Nicht-Zugehörigkeit darstellt.
Wer schon einmal Mobbing im Arbeitsumfeld erlebt hat, in der Klasse oder von der Freundesclique ausgeschlossen, oder von der Familie geächtet wurde, der weiß, wie schlimm das Gefühl des erzwungenen Abseits sein kann.
In Glaubensfragen ist es nicht anders. Wir fühlen uns wohl und sicher, wenn wir Menschen um uns haben, die an dasselbe glauben wie wir, die dasselbe Weltbild teilen, dieselben Ansichten, Werte und Verhaltensregeln propagieren und uns damit indirekt suggerieren: „Du machst alles richtig, du gehörst zu uns, wir sind die Guten, wir sind im Besitz der Wahrheit!“
Die Berufung auf alte Traditionen gibt Sicherheit
Wir identifizieren uns mit unserer Glaubensgruppe oder einer esoterischen Bewegung und grenzen uns gleichzeitig gegenüber „den anderen“ ab. Und dabei vergessen wir allzu oft unsere eigene Urteilsfähigkeit und eine gewisse kritische Distanz, die eine reife, selbstbewusste Persönlichkeit ausmachen.
Wir glauben ohne zu hinterfragen die zum Teil abenteuerlichsten Dinge, plappern das Gehörte und Gelesene undifferenziert nach, pflegen seltsame und oft sinnentleerte Rituale, oder geben viel Geld für magische Gegenstände und pseudo-religiösen Schnickschnack aus.
Auf Nachfragen kommen immer die gleichen Antworten: Das haben die Aborigines, die Indianer oder Maya schon vor Tausenden von Jahren erkannt oder so gemacht. Das ist das überlieferte Wissen von Atlantis. Das steht in der Bibel. Das sagte der Papst oder der Guru Sowieso. Das habe ich beim letzten Engel-Channeling erfahren, oder das hat meine Lieblings Esoterik-Autorin so geschrieben.
Ein Fünkchen spiritueller Ungehorsam wäre hier oft ganz heilsam, um in all den Theorien und Glaubensentwürfen uns selbst nicht zu verlieren!
Spiritualität als Weg in die innere Freiheit
Für mich ist die spirituelle Praxis kein Selbstzweck. Es geht nicht darum, in rosarote Licht-und-Liebe-Welten zu fliehen, sich irgendwie bedeutsamer zu fühlen oder gar dem Leben durch die Suche nach Antworten einen Sinn zu geben.
Wahre Spiritualität ist der Weg in die innere Freiheit! Und spiritueller Ungehorsam der Schlüssel.
Wer die Freiheit fürchtet, sollte lieber die Finger von der Spiritualität lassen. Allzu leicht wird man sonst zum Opfer von geltungsbedürftigen „Gurus“ und allerlei Illusionen.
Dabei geht es gerade darum, Illusionen zu durchschauen, das wahre Wesen der Dinge zu durchdringen und zu erkennen, wer wir sind.
Ein spiritueller Mensch lernt, selbstständig zu denken und eigenverantwortlich zu handeln. Das schließt ein, dass wir uns nur der Wahrheit unseres Herzens und unserem eigenen Gewissen unterwerfen. Auch wenn das bedeutet, ungehorsam zu sein und gegen Regeln und Gebote – vielleicht sogar gegen die ganze Gesellschaft – aufzubegehren.
Der spirituelle Weg wird zu einem großen Teil immer auch ein einsamer sein! Aber es ist eine Einsamkeit, die vollkommen anders ist, als das was wir kennen. Vielleicht weißt du, wovon ich spreche…
Mystik statt Glaube
Was wir oft vergessen ist, dass Spiritualität gar nichts – aber auch rein gar nichts – mit institutionalisierter Religion, mit festen Konzepten oder esoterischen Praktiken zu tun hat.
Um spirituell zu sein, müssen wir Revoluzzer sein, mutig genug, um in altvertraute und gleichzeitig doch gänzlich unbekannte Welten vorzudringen. Mutig genug, all die Ideen und Gedankengebäude, die wir uns mühsam aufgebaut haben, zum Einsturz zu bringen und in die Erfahrung des NICHTS einzutauchen.
Vor allem aber müssen wir bereit sein, aus der Sicherheit und komfortablen Übereinkunft der Herde auszusteigen und uns selbst zu begegnen – unseren Schatten und unserem Licht.
Ich denke, wir müssen die Erfahrung des All-ein-Seins machen um in die All-ein-heit einzutreten.
Warum spiritueller Ungehorsam für den Weg des Erwachens so elementar ist
Konzepte, Übereinkünfte und vermeintliches spirituelles Wissen geben uns erst einmal Sicherheit. Das ist völlig ok so. Doch je mehr fixe Annahmen wir über die Wirklichkeit treffen, je fester wir unsere Konzepte „zementieren“, umso enger wird unser Horizont.
Nichts, was außerhalb unseres Glaubensrahmens existiert, kann dann mehr zu uns durchdringen. Statt uns auszudehnen, leer und weit zu werden, limitieren wir uns in unserer Wahrnehmung und in unserem ganzen Sein.
Konzepte sind Krücken, die uns aber in echten Krisen kaum Halt geben können! Wir verlernen zu laufen.
Und je länger wir uns auf unsere Krücken gestützt haben, umso weniger trauen wir uns, sie in Frage zu stellen. Denn wie schrecklich ist es, nach Jahren oder Jahrzehnten zu erkennen, dass das Bein gar nicht gebrochen ist, und wir uns selbst ausgebremst haben.
Was ist denn ein „Wissen“ überhaupt wert, das uns irgendjemand auf dem Silbertablett serviert hat und das nur in unserem Kopf existiert? Spiritueller Ungehorsam lässt uns erkennen, dass wir selbst laufen können und keine Krücken brauchen!
Vom Gläubigen zum Mystiker werden – das ist für mich gelebte Spiritualität! Ich glaube, wir finden nirgendwo echte Heimat und Antwort außer in uns selbst. In uns selbst ist Alles und Nichts.
Meine spirituellen Weggefährten sind die Freidenker, die Mutigen, die Leeren. Die, die das Nichtwissen verehren. Die, die sich vertrauensvoll der eigenen Erfahrung hingeben, statt Fremdes nachzuplappern. Die, die keine Antworten haben.
Die, die das Leben in seiner Schönheit und Tragik gleichermaßen verehren und alles in ihr Herz nehmen können ohne in Gut und Schlecht zu unterteilen. Die, die keine Religion, keinen allwissenden Guru und keinen Gott brauchen – weil sie erkannt haben, dass sie Leben sind, das niemals und nirgendwo beginnt und endet. Die, die den Inhalt über die Form stellen.
Was ist ein Mystiker?
Früher gab es vereinzelte Mystiker, heute gibt es spirituelle Lehrer wie Sand am Meer, die sich oft hinter schlau klingenden pseudospirituellen Platitüden verstecken, und alle dasselbe erzählen.
Ein Mystiker ist ein Mensch, den es so sehr nach Erkenntnis dürstet, dass er alle Bücher, alle wissenschaftlichen Studien und Glaubenskonstrukte loslässt, um in die pure Erfahrung des Seins einzutauchen und Erkenntnis in der Begegnung mit sich selbst zu finden.
Er feiert und verehrt die Fragen, die in ihm auftauchen. Und er gibt sich alle Zeit der Welt um seine Erfahrungen zu machen, statt plumpe, oberflächliche Antworten in sich hineinzustopfen, die ihn satt und fett werden lassen und jeglichen Esprit ersticken.
Die meisten von uns nehmen stattdessen allzu gern die Abkürzung. Schnelle Antworten sind verlockender als regelmäßige Praxis und lebenslange Hingabe ohne Garantie, dass wir fündig werden.
Kunst als Ausdruck für das Unsagbare
Ein Mystiker ist einer, der sein Herz weit gemacht und den Mund verschlossen hat, weil er angesichts der Größe seiner Erfahrung keine Worte findet um sich mitzuteilen. Und weil es schon gar kein vom Verstand her zu begreifendes Konzept, keine Ideologie, „Regelwerk“ oder allgemeingültige „Lehre“ gibt.
Wenn Worte unzureichend sind, bleibt kein anderes Ventil als Liebe, Poesie, Malerei, Tanz oder Musik – oder die Stille und einfache Hingabe ans Tun. Ein Mystiker ist ein Mensch, der keine Antworten gibt und gar nicht geben kann, sondern andere ermutigt, selbst in die Erfahrung einzutreten.
Es gibt NICHTS zu lehren und NICHTS zu lernen. Es gibt keine Antworten. Es gibt das Mysterium des Lebens, das jeder frei, unvorbereitet und unverdorben in sich selbst entdecken darf.
Wenn du also auch aus diesem Hamsterrad der religiösen Konzepte aussteigen möchtest und frei sein willst, dann ist spiritueller Ungehorsam dein Schlüssel.
Nimm nicht mehr länger alles hin, was dir an Weisheiten und Theorien aufgetischt wird. Sei kritisch, frag nach! Setz deinen gesunden Menschenverstand ein, prüfe alles in deinem Herzen.
Überleg dir, aus welcher Zeit und aus welcher Kultur bestimmte Überlieferungen und Rituale stammen und frage dich, ob das hier und heute für dich tatsächlich stimmig ist.
Es gibt nichts zu lernen und nichts zu erreichen
Spiritualität ist nichts, was man studieren muss. Es gibt nichts zu lehren und nichts zu lernen. Es geht darum, einfach nur im Gewahrsein und in der reinen Präsenz zu verweilen.
Das ist für uns moderne Menschen besonders schwierig. Wir sind es gewöhnt, auf alles eine Antwort zu bekommen – Futter für den Verstand. Wer den Verstand beschäftigt, braucht nicht ins Fühlen zu gehen und sich nicht mit sich selbst zu konfrontieren.
Wir haben gelernt, je mehr wir uns bemühen, umso mehr bekommen wir. Wenn wir folgsam sind, werden wir belohnt. Je besser unsere Leistung, umso höher unser Ansehen und umso wertvoller und wichtiger sind wir.
Spiritueller Ungehorsam durchbricht diese Konditionierung. Er hilft uns, vom Verstand ins Herz zu kommen. Wir erinnern uns wieder an die wundervolle Qualität des Loslassens und der Hingabe. Und wir kommen wieder in Kontakt mit unserer ursprünglichen Lebendigkeit und kindlichen Fähigkeit des Staunens.
Wir müssen auf dem spirituellen Weg nichts beweisen. Wir müssen uns nicht gegenseitig mit irgendwelchen sogenannten „spirituellen Fähigkeiten“ übertreffen. Hellsehen, Channeln, Manifestieren, Kontakt mit Engeln und Verstorbenen – all das ist Schall und Rauch, und hat mit Spiritualität nichts zu tun!
Wir sind bereits alles. Wir müssen nichts hinzugeben, aber vieles fallen lassen!
Spiritueller Ungehorsam und der Mut zur eigenen Wahrheit
Der Psychoanalytiker und Philosoph Erich Fromm definierte Ungehorsam als die Bejahung von Vernunft und eigenem Willen. Es gehe nicht darum, gegen etwas zu kämpfen oder gar ungestüm aggressiv zu sein, sondern gerade um eine Haltung, die sich für etwas einsetzt.
Genau denselben Zweck verfolgt spiritueller Ungehorsam: Wir setzen uns ein für einen freien und unvoreingenommenen Geist. Für eine echte, authentische, ungefilterte Spiritualität, in der kein Platz für „richtig“ und „falsch“ ist. Für die Freiheit und Macht eines jeden Menschen, in die direkte Erfahrung des Göttlichen einzutauchen. Und für die Erweckung der weiblichen Qualitäten der Hingabe, der vollkommenen Offenheit, der Leere und der Herzenserkenntnis.
Spiritueller Ungehorsam fordert von uns einfach nur wach zu sein. Alles in unserem Herzen und Verstand zu prüfen und dann laut auszudrücken, was wir als Wahrheit erkannt haben, statt Dinge nachzureden, die wir von anderen übernommen haben, und blind einer Masse zu folgen.
Freiheit und die Fähigkeit zum Ungehorsam gehen Hand in Hand
Um den weit verbreiteten „common non-sense“ zu entlarven, braucht es viel Selbstbewusstsein:
„Um ungehorsam zu sein, muss man den Mut haben, allein zu sein, zu irren und zu sündigen. Die Fähigkeit zum Mut hängt aber vom Entwicklungsstadium des Betreffenden ab.
Nur wenn ein Mensch sich vom Schoß der Mutter und den Geboten des Vaters befreit hat, nur wenn er sich als Individuum ganz entwickelt und dabei die Fähigkeit erworben hat, selbständig zu denken und zu fühlen, nur dann kann er den Mut aufbringen, zu einer Macht nein zu sagen und ungehorsam zu sein.
Ein Mensch kann durch den Akt des Ungehorsams, dadurch dass er einer Macht gegenüber nein sagen lernt, frei werden; aber die Fähigkeit zum Ungehorsam ist nicht nur die Voraussetzung für Freiheit – Freiheit ist auch die Voraussetzung für Ungehorsam.
Wenn ich vor der Freiheit Angst habe, kann ich nicht wagen, nein zu sagen, kann ich nicht den Mut aufbringen, ungehorsam zu sein. Tatsächlich sind Freiheit und Fähigkeit zum Ungehorsam nicht voneinander zu trennen. Daher kann auch kein gesellschaftliches, politisches oder religiöses System, das Freiheit proklamiert und Ungehorsam verteufelt, die Wahrheit sprechen.“
(Erich Fromm: „Über den Ungehorsam“)
Wer Grenzen überwinden will, braucht spirituellen Ungehorsam
Ich war einmal auf einem indianischen Powwow, einer Zusammenkunft verschiedener indianischer Stämme, bei der gemeinsame Tänze und Rituale gepflegt werden. Für diesen Zweck wurde zu Beginn von der Zeremonienmeisterin in der Halle ein Kreis errichtet und gesegnet.
Ab diesem Zeitpunkt durfte man den Kreis nur noch an einer bestimmten Stelle betreten, aber nicht einfach so durchlaufen – und das bis zum Abschluss des kompletten Wochenend-Events.
Am Abend des ersten Veranstaltungstags, nachdem der offizielle Teil vorbei war, spielten ein paar kleine Kinder in der Halle, und dann passierte es: Ein Junge, der voll im Spiel und im Lachen und Fangen versunken war, durchquerte den Kreis, was große Empörung der anwesenden Erwachsenen nach sich zog.
Das war spiritueller Ungehorsam par excellence – wenn auch in kindlicher Unschuld und völlig unbewusst.
Der Junge wurde dann ziemlich schroff gemaßregelt, musste sich ganz förmlich entschuldigen und noch einmal außen um den Kreis herum laufen. Ich empfand die Aufregung als übertrieben. Der Junge war sichtlich geschockt, als hätte er etwas wirklich Schlimmes verbrochen.
Um was geht es wirklich?
Wird hier wirklich das Leben und der liebende Geist in Allem gefeiert? Wird das kreative Potenzial im Menschen geehrt oder militärischer Gehorsam?
Was ist das für eine Kraft, die man da anbetet, die ein spielendes, lachendes Kind, das in seiner Begeisterung Regeln durchbricht, offenbar nicht tolerieren kann?
Gibt es einen größeren Ausdruck von purer Liebe und Spiritualität als ein Kind, das in seiner unbändigen Lebensfreude ganz im Hier und Jetzt ist und alles um sich herum vergisst? Das ist das erhabenste Gebet, das ich mir vorstellen kann!
Und genau das meine ich mit fragwürdigen Ritualen. Dienen Rituale und Regeln wirklich der Feier des Lebens und dem kreativen Lebensausdruck oder wird hier die Form mehr verehrt als der Inhalt?
Ich habe nichts gegen Kraftkreise. Das ist toll und schön, sich in dieser Energie und dem geschützten Rahmen einzuigeln – so lange wie es passt.
Aber wer wirklich spirituell ist und das reine Bewusstsein verehrt (frei von Angst!), kann ein Durchbrechen dieses Kreises doch nur mit einem amüsierten Lachen quittieren. Einem Lachen der Erleichterung sogar, denn jede Grenze ist dazu da, irgendwann durchbrochen zu werden. Es braucht nur den Mutigen, der das tut!
Der Weisheit und Reinheit des Herzens folgen
Es geht nicht um Provokation und blindes Aufbegehren, sondern um eine herzzentrierte Präsenz, die intuitiv weiß, wann es an der Zeit ist, eine heilige Kuh zu schlachten. Für uns selbst in allererster Linie. Was andere tun, liegt in deren Entscheidung.
Ich habe einmal gelesen, dass die alten Meister im tantrischen Buddhismus gerade die Aufmüpfigsten und Unangepasstesten als Schüler wählten. Wem sonst sollte es gelingen, Grenzen zu durchbrechen und ein neues Bewusstsein in die Welt zu bringen?
Freigeist und spiritueller Ungehorsam galten hier als besondere Stärke, nicht blinde Folgsamkeit. Was natürlich auch für die Lehrer spricht! Denn auch diese werden durch einen aufmüpfigen Geist in ihrer Wahrhaftigkeit und Demut immer wieder geprüft und herausgefordert.
So bewahren sich die „Meister“ selbst vor dem Dämmerschlaf, vor Hochmut und Dogmatismus.
Wann spiritueller Ungehorsam zur Pflicht wird
Wenn die Form wichtiger ist als der Inhalt, dann wird Spiritualität zum Dogma. Dann geht es nicht mehr um die innere Freiheit und die unmittelbare Erfahrung des Seins, sondern um Glaubensfragen, Moral und unantastbare Rituale – und damit um Macht, Kontrolle, Abgrenzung und Spaltung.
Dann spätestens ist spiritueller Ungehorsam ein Muss: um zu retten, was wirklich wichtig ist. Und um eine Tür zu öffnen für die, die sich in der Form verloren haben.
In der Kirche erleben wir diese Dogmen und mechanistischen Riten genauso wie in vielen alten spirituellen Kulturen und esoterischen Zirkeln.
Wer Zugehörigkeit und Führung sucht, der ist hier sicher gut aufgehoben. Wer sich aber nach Befreiung und BewusstSEIN sehnt, wird hier kaum etwas davon finden. Man wird ihm vielleicht von Freiheit erzählen, aber er wird nie gänzlich frei sein.
Ähnlich ist es mit spirituellen Symbolen und Talismanen, bestimmter Kleidung, Schmuck und Ritualgegenständen. Es mutet ein wenig verdächtig an, wenn sich Leute allzu offensichtlich mit derartigem Zeug umgeben und behängen.
Wer so viel Äußerlichkeit braucht, fehlt es dem vielleicht an echter innerer Anbindung?
Auch hier dürfen wir loslassen und pur sein. Und uns trauen, dem Trend des offensiv nach außen getragenen Licht-und-Liebe Konformismus ein Stück weit zu entsagen.
Spiritualität bedarf keines Statements an die Außenwelt, sondern ist ein inneres, ganz persönliches commitment.
Spiritueller Ungehorsam versus spiritueller „Leistungszwang“
Ich nahm einmal – wenig geübt – an einer Meditation teil, in der wir angehalten waren, den Lotussitz und die aufrechte Position nicht zu verlassen.
Wie nicht anders zu erwarten war, tat mir nach einiger Zeit alles weh. Ich konnte mich auf nichts anderes mehr konzentrieren als auf den Schmerz. Meine Gedanken kreisten nur noch um die Frage, ob ich jetzt brav den Schmerz erdulden sollte auf Kosten meiner Meditation, oder ob ich einfach die Regel brechen und mir eine andere, bequemere Position suchen dürfte?
Nach langem Kämpfen mit mir selbst und Schamgefühlen entschied ich mich für Letzteres: Inhalt vor Form.
Auch hier verstehe ich den Zen-Gedanken: Der Schmerz bringt uns in Verbindung mit dem gegenwärtigen Moment. Und irgendwann kommt vielleicht der Punkt, an dem man über den Schmerz hinaus geht und den Körper überwindet. Mag sein.
Aber für MICH ist es nicht stimmig. Ich will den Weg mit meinem Körper gehen und nicht gegen ihn. Ich will den Körper nicht überwinden, sondern ihn mit Bewusstsein durchdringen. Meditation darf schön sein und muss nicht wehtun.
Beide Wege sind ok. Aber ich denke, der zweite ist für viele Menschen der heilsamere. Wir sind es eh gewohnt, uns permanent selbst Schmerz zuzufügen. Wir sind es gewohnt, zu gehorchen, Erwartungen zu erfüllen, Leistung zu erbringen und uns zu disziplinieren.
Macht es da Sinn, auf dem Weg des Erwachens noch mehr Zwang zu erzeugen, oder dürfen wir da nicht vielleicht einfach loslassen und feiern?
Streben und Identifikationen loslassen
Spiritueller Ungehorsam kann uns auf allen Ebenen vom einseitigen Leistungsstreben befreien. Es geht nicht darum etwas zu werden, sondern einfach zu sein. Es geht nicht darum, etwas zu wissen, sondern sich einfach der Erfahrung des Lebens zu stellen. Es geht nicht darum, immer mehr anzuhäufen, sondern sich von überflüssigem Ballast zu befreien und leer zu werden.
In Wahrheit gibt es nichts Banaleres als echte, freie Spiritualität!
Was macht das für einen Sinn, Konzepte in die Welt zu setzen, die die Menschen verunsichern und sie von ihrer Eigenverantwortung wegführen?
Von der katholischen Kirche haben sich deshalb viele abgewendet, aber in der Esoterik oder alternativen Heilerkreisen werden dieselben Mechanismen in anderem Gewand geduldet und sogar befördert. Der Mensch ist doch leicht zu manipulieren. Und er geht immer wieder freiwillig in dieselben Muster zurück, vor denen er geflüchtet ist…
Es geht letzten Endes immer um Freiheit. Wollen wir frei sein oder wollen wir ewig von einem Gefängnis ins nächste wechseln? Leider sind wir oft vollkommen eingelullt und sehen die Gitterstäbe gar nicht mehr.
Sei kritisch! Frag nach, provoziere, weck auf! Brich die Grenzen auf! Sei ungehorsam! Übernimm nicht jede Behauptung deiner Lieblings Esoterik-Autorin, deines Meisters oder deiner spirituellen Freundin.
Sei mutig, gib Kontra, geh deinen eigenen Weg!
Tritt aus der Herde heraus und nimm damit auch deinen Freunden die Angst! Ganz besonders die Angst vor dem All-ein-Sein und vor der Freiheit! Führ sie dorthin, wo das wahre Mysterium wartet, entdeckt zu werden: zu sich selbst!
Spiritueller Ungehorsam ist das größte Geschenk, das du dir selbst, deinen Wegbegleitern und Lehrern machen kannst. Du hältst euch damit wach und offen, und bringst euch immer wieder in Verbindung mit dem Echten und Heilsamen.
Spiritueller Ungehorsam: Buddha und Pippi Langstrumpf
Pippi Langstrumpf ist für mich einer der größten Gurus aller Zeiten. In ihrer liebevoll-frechen Art zeigt sie uns, wie spiritueller Ungehorsam funktioniert.
Vollkommen präsent und spontan dem Leben antwortend zeigt uns das sommersprossige Mädchen, was authentisches, freies Menschsein heißt. Mit zärtlicher Neugier und vollkommener Aufmerksamkeit erforscht sie ihre Umwelt. Immer inspiriert und bereit, sich von einem neuen Wunder überraschen zu lassen.
Kreativ stellt sie sich jeder Herausforderung in dem unerschütterlichen Vertrauen, dass alles möglich ist. Sie macht sich ihre Welt, „widde-widde-wie-sie-ihr-gefällt“. Je größer der Widerstand, umso mehr kommt sie in ihre Kraft.
Pippi weiß, dass die einzige Sicherheit im Leben in einem offenen, liebenden Herzen liegt. Wo andere zaudern und Angst haben, schenkt sie Mut und Zuversicht.
Das Leben nimmt sie, wie es kommt und macht das Beste daraus. Auch Resilienz, also psychische Widerstandskraft, kann man von ihr lernen, wie von keinem anderen!
Doch fraglichen Moralvorstellungen und unsinnigen Regeln widersetzt sie sich – selbstsicher und augenzwinkernd, ohne Bosheit und ohne Schuldgefühle. Pippi Langstrumpf vertraut ihrer eigenen Urteilsfähigkeit mehr als jeder Autorität im außen.
Eine Schule braucht das stärkste Mädchen der Welt nicht, denn es will die Dinge selbst erkunden, statt sich mit Wissen aus zweiter Hand vollzustopfen. Was ist schon Theorie im Vergleich zur direkten Erfahrung des großen Mysteriums der Schöpfung?
Ich bin sicher, Pippi wäre Buddhas Lieblingsschülerin gewesen. Ihr liebevoller spiritueller Ungehorsam wäre zumindest die perfekte Basis für ein vollkommenes Erwachen gewesen – wenn sie nicht schon längst erleuchtet war…
Selbst denken, fühlen und entscheiden erlaubt!
Auch Buddha fordert uns auf, in spirituellen Dingen selbst zu denken und nach unserem Gefühl und unserer Wahrheit zu gehen. Im Kalama Sutta spricht Buddha folgende Worte:
„Geht (…) nicht nach Hörensagen, nicht nach Überlieferungen, nicht nach Tagesmeinungen, nicht nach der Autorität heiliger Schriften, nicht nach bloßen Vernunftgründen und logischen Schlüssen, nicht nach erdachten Theorien und bevorzugten Meinungen, nicht nach dem Eindruck persönlicher Vorzüge, nicht nach der Autorität eines Meisters! Wenn ihr aber (…) selber erkennt: ›Diese Dinge sind heilsam, sind untadelig, werden von Verständigen gepriesen, und, wenn ausgeführt und unternommen, führen sie zu Segen und Wohl‹, dann (…) möget ihr sie euch zu eigen machen.“
Ein bisschen mehr Mut, Kreativität, Freigeist und eine Portion Ungehorsam täte uns allen ganz gut – in spiritueller Hinsicht genauso wie im Alltag!
Lokah samastah sukhino bhavantu – Mögen alle Wesen in allen Welten glücklich und frei sein!
Deine
Christine
Wie siehst du das? Orientierst du dich gern an Religionen, Traditionen und Konzepten, folgst du der Meinung und spirituellen Führung bestimmter Autoritäten, oder gehst du deinen eigenen spirituellen Weg? Bist du eher Gläubige oder Mystikerin? Ich freue mich auf deinen Kommentar!
[Bildnachweis: Beitragsbild: fietzfotos auf Pixabay; Frösche: Alexas_Fotos auf Pixabay; Lotussitz: leninscape auf Pixabay. Herzlichen Dank!]